Effektive Kommunikation ist der Schlüssel zum Erfolg – dafür steht das Radical-Candor-Modell von Kim Scott als Ansatz für Führung und Zusammenarbeit. Ursprünglich für die Führung von Teams entwickelt, findet dieses Modell auch in der Beratung Anwendung und sorgt dafür, dass Klienten nicht nur gehört, sondern auch ehrlich und lösungsorientiert unterstützt werden. In diesem Blogbeitrag stelle ich das Radical-Candor-Modell vor und wie es BeraterInnen dabei unterstützt, Beziehungen zu stärken und nachhaltige Veränderungen zu ermöglichen.

Was ist das Radical Candor-Modell?
Radical Candor, auf Deutsch „radikale Offenheit“, ist eine Methode, um Feedback zu geben, die auf einer Kombination aus Fürsorge und Direktheit basiert. Entwickelt wurde sie von Kim Malone Scott, einer ehemaligen Managerin bei Google und Apple, die heute ein eigenes Beratungsunternehmen führt. Radikale Offenheit, so wie Scott sie versteht, geht über einfache Kommunikation hinaus. Es bedeutet, als Führungskraft eine positive Haltung zu den Teammitgliedern einzunehmen und die Menschen hinter den Mitarbeitern zu sehen. Die Aufgabe der Führungskraft ist es, diese positive Haltung in der Kommunikation zu vermitteln, um Vertrauen und ein produktives Arbeitsumfeld zu schaffen.
Laut Kim Scott bestehen zwei wesentliche Bestandteile von Radical Candor:
- Am Gegenüber interessiert sein und die Menschen wichtig nehmen – dies beschreibt das Prinzip „Care personal“, auch „persönliche Fürsorge“. Dabei geht es darum, echtes Interesse an den Bedürfnissen und Zielen der Teammitglieder zu zeigen und die Menschen nicht nur als Arbeitskräfte, sondern als Individuen zu betrachten.
- Mit dem Gegenüber klar und direkt sprechen und es damit herausfordern – das Prinzip „Challenge strict“ fordert dazu auf, ehrliches und direktes Feedback zu geben, das manchmal unangenehm sein kann, aber notwendig ist, um Fortschritte zu erzielen. Dabei sollte jedoch darauf geachtet werden, dass das Feedback respektvoll und nicht aggressiv übermittelt wird.
Wenn diese beiden Prinzipien kombiniert werden, entsteht eine Kommunikation, die gleichermaßen respektvoll wie wirkungsvoll ist. Ziel ist es, schwierige Themen offen anzusprechen, ohne dabei Beziehungen zu gefährden – ganz im Gegenteil: Vertrauen und Offenheit wachsen durch authentische Kommunikation.

Viele Menschen haben Schwierigkeiten, die Balance zwischen Empathie und Direktheit zu finden. Diese Angst vor negativem Feedback oder davor, andere zu verletzen, ist weit verbreitet. Doch Radical Candor zeigt, dass ehrliches Feedback nicht gleichbedeutend mit verletzender Kritik ist. Vielmehr geht es darum, respektvoll, aber klar und deutlich zu kommunizieren, was verbessert werden kann. Immer mit dem Ziel, gemeinsam zu wachsen und sich zu entwickeln. In der Beratung, wie auch in der Führung von Teams, kann diese Art der Kommunikation zu enormen Verbesserungen führen – sowohl im Umgang miteinander als auch in der Lösung von Problemen und Herausforderungen.
Warum ist das Modell für die Beratung relevant?
Beratung ist ein Feld, das auf klarer Kommunikation und gegenseitigem Vertrauen basiert. Beraterinnen stehen oft vor der Herausforderung, sinnvolle Themen anzusprechen oder Kritik zu äußern, ohne die Beziehung zum Klienten zu belasten. Hier hilft das Radical-Candor-Modell, da es Beraterinnen ermöglicht, eine Balance zwischen Empathie und Ehrlichkeit zu finden.
Mit Radical-Candor können Beraterinnen:
- Vertrauensvolle Beziehungen aufbauen: Klienten schätzen es, wenn Beraterinnen echtes Interesse an ihren Zielen und Herausforderungen zeigen.
- Klarheit schaffen: Direktes Feedback hilft, Probleme zu erkennen und gezielt anzugehen.
- Nachhaltige Veränderungen fördern: Ehrliche Gespräche legen den Grundstein für langfristige Verbesserungen und Wachstum.
Anwendung des Radical-Candor-Modells in der Beratung
Wie genau funktioniert Radical Candor in der Praxis? Hier sind drei konkrete Szenarien aus dem Beratungsalltag, in denen das Modell hilfreich sein kann:
1. Kritische Themen ansprechen
In der Beratung geht es meist darum, den Finger auf wunde Punkte zu legen – sei es eine ineffiziente Strategie, unklare Prozesse oder interne Konflikte im Team des Klienten. Radical Candor ermutigt Beraterinnen, diese Themen offen anzusprechen, ohne dabei verletzend zu wirken.
- Beispiel: Ein Klient hat Schwierigkeiten, eine gesunde Balance zwischen Arbeit und Privatleben zu finden, und neigt dazu, immer „zu viel“ zu tun. Statt zu sagen: „Sie übertreiben es mit Ihrer Arbeit und ignorieren Ihr Privatleben. Das ist ein großes Problem“, könnte eine Beraterin im Sinne von Radical-Candor sagen:
„Sie investieren viel Energie in Ihre Arbeit, aber Sie vernachlässigen dabei Ihr persönliches Wohlbefinden. Vielleicht könnten Sie konkrete Schritte unternehmen, um eine bessere Balance zu finden, zum Beispiel feste Zeiten für Erholung und Familienaktivitäten einplanen.“
Durch diese klare, aber einfühlsame Kommunikation fühlt sich der Klient nicht angegriffen, sondern erhält die Möglichkeit, an einem wichtigen Aspekt seines Lebens zu arbeiten. Durch diese Kombination aus Fürsorge und Direktheit fühlt sich der Klient unterstützt und motiviert, Veränderungen herbeizuführen.
2. Schädliche Empathie vermeiden
Oftmals neigen Beraterinnen dazu, Schwierigkeiten zu beschönigen, um die Beziehung zum Klienten nicht zu gefährden. Dies führt jedoch dazu, dass Probleme ungelöst bleiben und sich langfristig verschärfen. Radical Candor fordert dazu auf, Ehrlichkeit mit Respekt zu verbinden.
- Beispiel: Eine Klientin ist in einer Beziehung, die ihr nicht guttut, aber der Berater zögert, dieses Thema anzusprechen. Statt zu sagen: „Ihre Beziehung scheint schwierig zu sein, aber es gibt keinen Grund, etwas zu verändern.“ Vielleicht wird es sich irgendwann von selbst bessern.“ Sollte ein Berater im Sinne von Radical Candor formulieren:
„Ich habe den Eindruck, dass diese Beziehung Ihnen mehr Stress bereitet als Freude.“ Es könnte hilfreich sein, zu reflektieren, ob diese Beziehung Ihre langfristigen Ziele und Ihr Wohlbefinden wirklich unterstützt.“
Die direkte Ansprache hilft der Klientin, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, anstatt in einer ungesunden Dynamik zu verharren.
3. Feedback-Kultur fördern
Beraterinnen können Radical Candor nicht nur selbst anwenden, sondern das Modell auch nutzen, um eine Kultur der Offenheit und Transparenz bei ihren Klienten zu etablieren. Teams, die ehrlich miteinander kommunizieren können, effizienter arbeiten und Missverständnisse vermeiden.
- Beispiel: Ein Berater arbeitet mit einem Klienten, der Schwierigkeiten hat, in persönlichen Beziehungen Feedback zu geben – sei es in Freundschaften oder Partnerschaften. Der Berater könnte einen Workshop oder ein Gespräch anbieten, das sich darauf konzentriert, wie man respektvoll Feedback gibt, um Missverständnisse zu vermeiden und das eigene Wachstum zu fördern.
Der Berater könnte im Gespräch sagen: „Es könnte hilfreich sein, wenn Sie lernen, Ihre Gefühle klarer zu kommunizieren und sich gleichzeitig für das Feedback anderer zu öffnen. Ein guter Anfang wäre, regelmäßig eine offene Diskussion über eure Bedürfnisse zu führen, ohne dass sich jemand angegriffen fühlt.“
Die Art der Förderung einer Feedback-Kultur in persönlichen Beziehungen kann zu mehr Klarheit und besseren zwischenmenschlichen Verbindungen führen.
Die Vorteile von Radical Candor in der Beratung
Wenn Beraterinnen das Radical-Candor-Modell nutzen, profitieren sowohl die Berater-Kunden-Beziehung als auch die Ergebnisse der Beratung. Klienten fühlen sich respektiert und verstanden, was das Vertrauen in die Beraterin stärkt und die Beziehung vertieft. Durch die direkte Ansprache von Herausforderungen können Probleme effektiver gelöst werden, was zu schnelleren und nachhaltigeren Ergebnissen führt. Gleichzeitig fördern Beraterinnen eine Kultur der Offenheit, die Klienten nicht nur bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen unterstützt, sondern sie auch langfristig besser für die Zukunft aufstellt.
Ehrlichkeit mit Herz
Das Radical-Candor-Modell bietet Beraterinnen ein wertvolles Rüstzeug, um in ihrer Arbeit Veränderungen zu bewirken. Durch die Kombination von persönlicher Fürsorge und direktem Feedback können Beraterinnen eine starke Vertrauensbasis schaffen und gleichzeitig Klarheit in schwierigen Situationen bieten. Das Ziel ist nicht, Kritik zu vermeiden oder Konflikte zu verschleiern, sondern durch authentische Kommunikation positive Veränderungen anzustoßen – bei Einzelnen, Teams und ganzen Organisationen.
Literatur: Scott, Kim (2019): Radical Candor: Be a Kick-Ass Boss Without Losing Your Humanity