Das ungelebte Leben: Wie frühe Verletzungen unser Nervensystem und Bindungserleben prägen

Fast jeder Mensch trägt in sich einen stillen Raum. Einen inneren Ort, an dem das aufbewahrt ist, was nie gelebt werden durfte: Wünsche, die wir aus Angst zurückhielten. Impulse, die wir unterdrückten, um nicht zu verlieren, was wir am meisten brauchten: Bindung und Zugehörigkeit. Es ist das „ungelebte Leben“. Jener Teil von uns, der sich einst aus Selbstschutz zurückgezogen hat.
Neurobiologisch betrachtet, ist dieses Zurückweichen keine bewusste Entscheidung. Es ist eine Überlebensreaktion unseres Nervensystems, geprägt durch Bindungserfahrungen und frühe Stressbelastungen.

Wenn Bindung und Überleben miteinander kollidieren

Nach Bowlby und Ainsworth ist der Mensch von Geburt an auf sichere Bindung angewiesen. Doch was passiert, wenn Bezugspersonen selbst überfordert, abwesend oder ambivalent sind? Das Kind steht vor einem unlösbaren Konflikt: Es braucht die Bindung, um zu überleben, gleichzeitig wird diese Bindung zur Quelle von Stress, Unsicherheit oder sogar Bedrohung.

Neurobiologisch reagiert das autonome Nervensystem darauf mit Anpassung. Der Sympathikus wird hochgefahren, was zu Hyperaktivität, Überanpassung und einem ständigen Drang führt, sich selbst zu optimieren oder „alles richtig zu machen“. Alternativ übernimmt der dorsale Vagus, was sich in Erstarrung, Rückzug oder emotionaler Taubheit äußern kann. In beiden Fällen handelt es sich um unbewusste Schutzstrategien, die im Körper und Nervensystem verankert sind.

Die Polyvagal-Theorie: Wie unser Nervensystem Schutz organisiert

Laut der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges entwickelt sich ein inneres Schutzsystem, das die Reaktionen unseres Nervensystems hierarchisch organisiert. Zunächst bevorzugt das System den Zustand der sicheren sozialen Verbundenheit, wenn der ventrale Vagus aktiviert ist. In diesem Zustand fühlen wir uns ruhig, reguliert und offen für zwischenmenschliche Beziehungen. Doch sobald Gefahr wahrgenommen wird, wechselt das System in die Kampf- oder Fluchtreaktion, die den Sympathikus aktiviert und uns in Alarmbereitschaft versetzt. Wenn weder Flucht noch Kampf möglich sind, folgt die Erstarrung und der dorsale Vagus übernimmt. Wir ziehen uns zurück, fühlen uns leer oder taub. Diese Reaktionsmuster laufen häufig unbewusst ab und können auch in sicheren Situationen wieder aktiviert werden, was insbesondere bei Menschen mit frühen Bindungsverletzungen der Fall ist.

Das Window of Tolerance: Warum alte Muster heute noch „anspringen“

Der Neuropsychologe Daniel Siegel spricht vom „Window of Tolerance“, dem Bereich, in dem unser Nervensystem in einem ausgeglichenen, regulierten Zustand bleibt und flexibel auf Stress reagiert. Bei Menschen, die frühe Bindungsverletzungen erlebt haben, ist dieses Fenster oft verengt. Schon kleine Stressoren wie Kritik, zu viel Nähe oder Überforderung können das Nervensystem überlasten und es in Zustände der Übererregung oder Untererregung kippen lassen. In solchen Momenten erleben sie typischerweise Kampf-Flucht-Reaktionen oder Erstarrung, ohne dass dies bewusst gesteuert wird. Das Nervensystem greift automatisch auf alte Schutzmuster zurück, die tief im Körper und Gehirn gespeichert sind.

Typische Anzeichen bei Menschen, die diese Muster erfahren, sind zum Beispiel das Erstarren in Konfliktsituationen, eine übermäßige Harmoniesucht und Selbstaufgabe sowie ständige Scham oder Selbstkritik. Auch körperliche Symptome wie unklare Schmerzen oder Müdigkeit ohne medizinische Ursache sind häufig Ausdruck dieser unbewussten Schutzmechanismen.

Feinfühlig neurobiologischen Schutzmuster erkennen

Coaches, Beraterinnen und Therapeutinnen begegnen regelmäßig Menschen, die kognitiv ihre Muster verstehen, diese jedoch weiterhin in ihrem Leben erleben und wiederholen. Veränderungsvorhaben scheitern oft, weil das Nervensystem unbewusst blockiert. Traumasensible Gesprächsführung bedeutet in solchen Fällen, die Schutzprogramme des Nervensystems zu erkennen, bevor sie als pathologisch wahrgenommen und möglicherweise missverstanden werden. Es geht darum, Gespräche so zu führen, dass sie das „Window of Tolerance“ erweitern und nicht verengen. Das bedeutet, sich nicht auf schnelle Problemlösungen zu konzentrieren, sondern zu einer neurobiologischen Sicherheit zu führen, in der das Nervensystem neue, gesunde Erfahrungen machen kann.

Das erfordert eine hohe Präsenz in der Begleitung: Feine Signale wie veränderte Atmung, Mimik oder Körperspannung müssen erkannt und berücksichtigt werden. Zudem ist es wichtig, ein Bewusstsein für Trigger und Überwältigung zu entwickeln, die das Nervensystem in alte Muster zurückfallen lassen. Die Fähigkeit zur Co-Regulation, das Angebot von Unterstützung durch Tonfall, Rhythmus, Blickkontakt und eine geeignete Raumgestaltung sind hier bedeutsam.

Der stille Raum, in dem Heilung beginnt

Wenn Menschen beginnen zu spüren, dass ihre Schwierigkeiten nicht Ausdruck von Schwächen sind, sondern alte Schutzreaktionen, die aus der Vergangenheit stammen, beginnt eine tiefgehende Veränderung. Scham kann sich in Selbstmitgefühl wandeln, Druck wird durch Verstehen ersetzt. Das Nervensystem bekommt die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen: nicht mehr in Isolation, sondern im Kontakt mit anderen. Diese Veränderung ist jedoch keine schnelle Technik, sondern ein neurobiologischer Lernweg:

  • Vom chronischen Alarmzustand zurück in die Regulation.
  • Vom unbewussten Schutzmodus hin zu lebendiger Selbststeuerung.
  • Von „Überleben“ zu „Leben“.

Fortbildung „Traumasensible Gesprächsführung“

Wer diese Fähigkeit vertiefen möchte, für eigene Klienten und auch für sich selbst, ist herzlich eingeladen, an der Fortbildung „Traumasensible Gesprächsführung“ teilzunehmen. Hier geht es um:

  • die Einführung in traumasensible Gesprächsführung und die Grundlagen der Psychotraumatologie
  • Wie Sicherheit und Stabilität im Gespräch geschaffen werden und wie Trigger sowie Flashbacks verstanden werden können
  • Deeskalationstechniken und Gesprächsstrategien für den Umgang mit belastenden Emotionen
  • die Bedeutung von Grenzen und die Möglichkeiten der traumasensiblen Gesprächsführung
  • Selbstfürsorge und Resilienzförderung für eine langfristige, gesunde Begleitung

Echte Veränderung beginnt nicht im kognitiven Verstehen, sondern dort, wo unser Nervensystem sich sicher genug fühlt, neue Wege zu gehen. Dort, wo „Stille den Raum durchbricht“ und aus Abwehr wieder Lebendigkeit werden darf.

Mehr Infos und Anmeldung: https://histap.de/events/traumasensible-gespraechsfuehrung/

Literatur (für alle, die tiefer eintauchen möchten)

  • Porges, Stephen W.: Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie (2019)
  • Siegel, Daniel J.: Das achtsame Gehirn. Wie Meditation und Achtsamkeit die Neurobiologie der Beziehungen stärken (2009)
  • van der Kolk, Bessel: Verkörperter Schrecken. Trauma spüren und die Heilung des Körpers finden (2023)

2 Gedanken zu „Das ungelebte Leben: Wie frühe Verletzungen unser Nervensystem und Bindungserleben prägen“

  1. „Echte Veränderung beginnt nicht im kognitiven Verstehen, sondern dort, wo unser Nervensystem sich sicher genug fühlt, neue Wege zu gehen. “ : Das kann ich aus eigener Erfahrung vollumfänglich bestätigen. Ausrufezeichen 😉 . Danke für den informativen Beitrag. (Das Seminar würde mich auch SEHR interessieren, bzw. dieses Mal passt der Termin nicht für mich.)

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