Ablösung von den Eltern: Warum sie wichtig ist und wie sie gelingen kann  

Wer kennt das nicht auch – innerhalb weniger Sekunden sind wir von einer Situation so provoziert, dass wir wütend werden oder uns ohnmächtig fühlen? Meist ist es uns schleierhaft, warum wir in eine emotionale Überreaktion geraten. Woher kommt sie?
Unbewusst sind viele von uns auch als Erwachsene noch mit den eigenen Eltern so verwoben, dass es Auswirkungen auf unsere Beziehungsgestaltung zu anderen und unseren Umgang mit uns selbst hat. Unter Umständen kann das zu Schwierigkeiten und Problemen in unserem Leben führen. Wie gelingt eine gesunde Ablösung von unseren Eltern?

Dieser Blogartikel bietet eine kurze Einführung in das vielschichtige Thema der Ablösung von den eigenen Eltern. Der Prozess der Ablösung ist ein natürlicher Teil des Erwachsenwerdens. Gelingt uns die Ablösung von unseren Eltern, so bilden wir eine eigene Identität, entwickeln Autonomie und bauen gesunde Grenzen auf. Wir entwickeln uns zu eigenständige Individuen und können ein erfülltes Leben führen.

Die Eltern-Kind-Beziehung
Ohne Frage haben unsere Eltern in unserer Entwicklung eine elementare Bedeutung. Sie sind in der Regel die ersten Bezugspersonen, die uns begleiten und uns grundlegende Fähigkeiten und Werte vermitteln und die Welt erklären. Wie die Beziehung zwischen unseren Eltern und uns als Kind verläuft, prägt unsere frühe Entwicklung: sie legt den Grundstein, wie wir unser Selbstverständnis entwickeln und unsere (zukünftigen) Beziehungen gestalten. Gleichzeitig ist es in unserer Entwicklung ein natürlicher Prozess, dass wir uns von unseren Eltern ablösen und uns als eigenständige Individuen weiterentwickeln – während wir möglichst eine respektvolle Bindung zu unseren Eltern aufrechterhalten.

Und auch in der Transaktionsanalyse ist die Entwicklung der individuellen Autonomie ein zentrales Thema. Ziel ist die Entwicklung des Menschen zu einer individuellen und gleichzeitig bezogenen Autonomie und dabei durchläuft er verschiedene Stadien. Schneider (2000) benennt diese Stadien mit einer ressourcenorientierten Sprache folgendermaßen:

  • Geborgenheit
  • Abgrenzung
  • Selbständigkeit
  • Wechselseitige Bereicherung
  • Freiheit zu verschiedenen Beziehungsarten

Das Durchlaufen dieser Stadien führt zu einer Autonomie, die Freiheit in Verbundenheit ermöglicht.

Die Herausforderung der Ablösung
Zweifelsohne kann der Prozess der Ablösung neben dem kraftvollen Erleben der Selbstwirksamkeit auch durchaus schmerzvoll sein. Meist sind sie mit Herausforderungen und Wachstumsschmerzen verbunden. Die Ablösung und Entwicklung von Autonomie bedeutet Veränderung. Sie kann Konflikte mit sich bringen, denn sowohl unsere Eltern als auch wir als Kinder werden uns immer wieder neu in einer unbekannten Dynamik zurechtfinden müssen. Während sich die Beziehung verändert, können beispielsweise Gefühle von Verlust, Trauer oder Schuld entstehen. Z.B. die Angst vor Ablehnung oder die Sorge, dass die Bindung zu den Eltern leidet, können unsicher machen und den Ablöseprozess erschweren. Auch in unserem Inneren kann es während der Ablösungsphase zu Konflikten kommen, da sich das Bedürfnis nach Unabhängigkeit mit dem Wunsch nach Sicherheit und Zugehörigkeit zu den Eltern überschneidet. Der Übergang von der Abhängigkeit zur Autonomie erfordert Mut und Selbstreflexion, um die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu erkunden. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Ängste und Unsicherheiten normal sind und dass jeder Ablösungsprozess individuell verläuft.

Auswirkung auf Beziehungen
Gelingt eine gesunde Ablösung von den Eltern nicht, kann dies Auswirkungen auf unsere Partnerschaft oder auch auf andere Beziehungen haben. Ein Beispiel: Wir wollen unbewusst die Erwartungen unserer Eltern erfüllen und wissen selbst gar nicht, was wir wollen. So kann es in der Partnerschaft dazu führen, dass wir uns möglicherweise zu sehr auf unseren Partner verlassen, um Entscheidungen für uns selbst zu treffen oder unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Das Setzen von Grenzen kann schwierig sein, da wir womöglich die Erwartungen und Wünsche unserer Eltern oder unseres Partners oder unserer Partnerin übernehmen, anstatt unsere eigenen zu erkennen und auszudrücken. Die Entwicklung einer bezogenen Autonomie kann dabei auf der Strecke bleiben, da wir uns in Situationen unsicher fühlen, eigene Entscheidungen zu treffen und stattdessen nach Zustimmung, Erlaubnis oder Anleitung von außen suchen. Die Fähigkeit Konflikte zu bewältigen, fällt uns besonders schwer, da wir uns überfordert fühlen. Für die eigene Meinung eintreten und für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen, stellt eine Herausforderung dar.  

Ablösung gestalten
Wie zu Anfang beschrieben, gibt es Situationen, die uns triggern – wir verfallen von einem auf den anderen Moment in unser kindliches Erleben und Empfinden. Dr. Sandra Konrad, Psychologin und Autorin sagte in einem Interview, dass es sich lohnt diese Situationen genauer anzuschauen. Diese sind oft ein erster Hinweis darauf, wo Bereiche sind, in denen wir uns noch weiter von unseren Eltern ablösen können. Eine eröffnende Frage ist: Woher kenne ich dieses Gefühl? Wo in meiner Kindheit habe ich das erlebt? Wo wurde ich als Kind emotional nicht gut versorgt? Diese Fragen ermöglichen es uns tiefer zu schauen und eventuelle Verletzungen aufzuarbeiten, um sich besser zu verstehen und dann auch von den Eltern lösen zu können. Dabei helfen Schuldzuweisungen nicht weiter. Dr. Sandra Konrad sagt, dass es hilfreich ist, wenn wir einen inneren Frieden mit unserer Vergangenheit finden und Mitgefühl für uns selbst und später auch für unseren Eltern entwickeln. Möglicherweise lohnt es sich, unseren eigenen Erwartungen an unsere Eltern auf die Spur zu kommen. Vielleicht schaffen wir es sogar mit einer erwachsenen Brille auf die Kindheit der eigenen Eltern zu schauen und sogar Verständnis für ihr Handeln zu entwickeln. Dabei kann ich selbst meine eigenen Erwartungen an meine Eltern reflektieren.

Durch eine gesunde Ablösung haben wir die Möglichkeit, unsere eigene Identität zu entwickeln und uns von den Erwartungen anderer zu lösen. Wir können unsere eigenen Interessen, Werte und Ziele erkunden und authentisch sein. Lösen wir uns von unseren Eltern, dann werden wir selbstständig Entscheidungen treffen und Verantwortung für unser eigenes Leben übernehmen.

Die Balance zwischen Abgrenzung und Wertschätzung
In der Regel haben wir bei der Ablösung von unseren Eltern, den Wunsch, eine gesunde Balance zwischen Abgrenzung und Wertschätzung hinzubekommen. Dies kann uns mit einer respektvollen und liebevollen Kommunikation gelingen. Wir bemühen uns darum, eine gute Beziehung zu unseren Eltern aufrechtzuerhalten, indem wir ihnen Wertschätzung und Anerkennungen entgegenbringen – auch wenn sie es selbst nicht immer hinbekommen. Gleichzeitig ist es eine wichtige Entwicklungsaufgabe für (erwachsene) Kinder, dass sie Grenzen setzen und die eigene Autonomie wahren, ohne dabei die Verbundenheit zu verlieren. Dies bedeutet, dass wir klare Grenzen kommuniziert und eigene Entscheidungen und Lebenswege möglichst auf beiden Seiten respektiert werden.

„Ablösung ist kein einzelner Schritt, sondern ein lebenslanger Weg zu mir selbst.“  Dr. Sandra Konrad

In diesem Sinne: Wir sind alle verschieden und jeder Mensch hat seinen eigenen Weg und sein eigenes Tempo. Ablösung von den eigenen Eltern ist eine individuelle Reise, bei der Selbstreflexion, Selbstfürsorge und Geduld gute Wegbegleiter sind.

Empfehlungen zum Thema:

  • Unser HISTAP- Kurs: Einführung in die TA – sich selbst und Beziehungsmustern auf die Spur kommen! https://histap.de/events/einfuehrung-in-die-transaktionsanalyse/
  • Artikel: „Wir sind unseren Eltern nichts schuldig“ von Julia Schaaf – im Interview mit Sandra Konrad, Autorin und Psychologin
  • Buch: „Nicht ohne meine Eltern – wie gesunde Ablösung all unserer Beziehungen verbessert“ von Sandra Konrad

Weitere Literatur zum Thema:

  1. Das Schlüsselkind: Wie ich meine Familie rettete“ von Sandra Konrad – In diesem Buch erzählt Sandra Konrad von ihrer eigenen Erfahrung der Ablösung von ihren Eltern und wie sie ihre eigene Identität entwickelte.
  2. Das Kind in dir muss Heimat finden“ von Stefanie Stahl – Stefanie Stahl behandelt in diesem Buch Themen wie die innere Kind-Arbeit und den Einfluss der Eltern auf unsere Persönlichkeit. Es bietet Strategien zur Ablösung von negativen Mustern und zur Entwicklung einer gesunden Selbstliebe.
  3. Auch alte Wunden können heilen: Wie man seelische Verletzungen überwindet“ von Luise Reddemann – In diesem Buch geht Luise Reddemann auf die Heilung von seelischen Verletzungen und den Prozess der Ablösung von belastenden Erfahrungen ein.
  4. Bindung, Trauma und die Selbstorganisation der Persönlichkeit: Vom frühen Trauma zum erwachsenen Selbst“ von Ursula Wirtz – Ursula Wirtz untersucht in diesem Buch die Auswirkungen von Bindung und Trauma auf die Entwicklung der Persönlichkeit und gibt Anleitungen zur Ablösung von traumatischen Erfahrungen.
  5. Seelische Trümmer – Geboren in den 50er und 60er Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas“ von Bettina Alberti. In dem Buch beleuchtet Bettina Alberti die psychischen Auswirkungen des Kriegstraumas auf diejenigen, die in den 50er und 60er Jahren geboren wurden und hilft ein Verständnis für Eltern aus dieser Generation zu entwickeln.

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